Die Geschichte des Turnanzuges

Morgen, Dienstag. Nach der Schule ist wieder Training. Ob wir etwas Neues lernen? Ob Marleen wieder gesund ist? Morgen werde ich meinen supertollen neuen Turnanzug anziehen. Den habe ich mir so lange schon gewünscht. Und Mama hat Ihn mir nach dem letzten Turnwettkampf für meinen 7. Platz gekauft…

So oder so ähnlich erleben viele junge Turnerinnen Ihren Alltag. Der Turnanzug für das Training, der Turnanzug für den Wettkampf – alles eine besondere Angelegenheit. Und um wie viel es sich gleich besser trainieren und turnen lässt in einem neuen, besonders schön genähten Exemplar zeugen die vielen tausend Mitglieder des DTB, des Deutschen Turner-Bundes e.V.

Aber wie war das eigentlich? Wie kommt es zum heutigen Turnanzug?

1811 richtete Friedrich Ludwig Jahn einen Turnplatz auf der Hasenheide in Berlin ein und löste damit eine sich immer schneller ausbreitende Turnbewegung in Deutschland aus. Heute gilt Jahn als der Erfinder oder “Vater” des Turnens. Neben all seinen politisch geleiteten Ambitionen, legte Turnvater Jahn durch Übungen an Geräten den Grundstein des heutigen Kunstturnens. Er war es, der das „Du“ unter den Sportlern salonfähig gemacht hat. Auch führte er die turnerisch zweckmäßige Kleidung ein.

Dabei waren es zu Jahns Zeiten verbreitet die Jungen und Männer, welche turnten. Das starre Rollenbild der Frau in dieser Zeit hingegen sah es eher vor, den Haushalt zu unterstützen oder, anders gesagt, “schickte es sich nicht” für eine Frau sich körperlich zu ertüchtigen. Es gab vereinzelt einige Damen, hauptsächlich im Kreis des privilegierten Adels, welche Tennis und Golf spielten. Jedoch dauerte es noch bis 1890 bis sich das Turnen auch unter den Frauen nach und nach durchsetzen konnte.

Vom steifen Korsett zum anliegenden Stretchbody

Ende des 19. Jahrhunderts gingen Frauen in ihrer Alltagskleidung zum Sport, zu der damaligen Zeit also im Korsett – auch Schnürleibchen genannt – im langen Rock, und in Absatzschuhen. Erst ab 1900 konnten die Damen in lockerer Kleidung und flachen Schuhen Turnübungen ausführen.

Im Jahrbuch des Mainzer Turnvereins von 1909 steht zum ersten Schauturnen der Frauen: „Die Turnübungen bestehend aus Freiübungen, Reigen, Stabübungen, Turnen an der Hängeleiter und Barren, sowie verschiedene Spielübungen klappten vorzüglich.“

In dieser Zeit begann eine langsame aber stetige Abspaltung der Sportkleidung von der Alltagskleidung. Zum ersten Mal veränderte sich die Funktion der Kleidung für den Einsatz beim Sport. Diese war jedoch noch völlig unästhetisch. Es wurden schwere Schuhe, formlose Leibchen, Overalls und Pumphosen getragen. Der Status einer Sportbekleidung musste erst erkämpft werden.

Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurden die ersten technischen Verbesserungen bei der Sportbekleidung eingeführt, was sich in erster Linie an den Veränderungen in den Materialien zeigte. So wird “Stretch” in den frühen Fünfzigern zu einem eingedeutschten Zauberwort. Elastische Gewirke und Gestricke passen sich jeder Dehnung am Körper an und wirken bei entsprechender Schnittführung auf dem Körper wie eine zweite Haut. Tragekomfort, geringes Gewicht, eine nimmermüde Elastizität – ohne diese Eigenschaften ist Sportkleidung heute nicht mehr denkbar.

Vom Strukturwandel in den Botschaften der Sportästhetik

In der Bundesrepublik wird die Turngeschichte der Frauen ab den 1950iger Jahren von der Idee eines “frauengemäßen Turnens” begleitet. So wird im Zeitraum von 1954 bis 1961 den bundesdeutschen Turnerinnen vom Deutschen Turnerbund die Teilnahme an den internationalen Wettkämpfen unter anderem auch deshalb untersagt, weil das olympische Kunstturnen im DTB als “unfraulich” gilt. So lehnte der DTB nicht nur die sich zu der damaligen Zeit abzeichnende zunehmende Akrobatisierung und die Forderung nach Höchstleistungen bei den Wettkämpfen ab, sondern auch die aus dem Ballett entlehnten gymnastischen Übungsverbindungen. Das rhythmisch Fließende galt als fraulich – nicht jedoch die statischen Ballettposen und Übungsteile wie hohes Beinspreizen, Spagat und Brücken. Letztere waren bedenklich, da befürchtet wurde, dass die Turnerin dadurch zum Varieté-Star verkommen könnte.

Dass man sich dem “artistisch-ballettösen” Kunstturnen doch geschlagen geben musste liegt nicht an einer Befreiung des Frauenturnens als vielmehr an der Verschiebung der Ideale. Die Sportmode in Ihrer Entwicklung bis in die heutige Zeit wird geprägt durch den gesellschaftlichen Wertewandel, die Fitnesswelle und vor allem durch den zunehmenden Zugang der Frauen zum Sport. Mit dem sich verändernden Sport, ändert sich auch die Präsentation des Körpers und der ihn zierenden Sportbekleidung.

Bereits die äußere Erscheinung der Turnerin muss herrschenden Schönheitsvorstellungen genügen. So meldet die Sportpresse kurz vor der WM 1974, dass die Damenriege des DTB vor Ihrem Abflug noch einen Tag beim Friseur einlegte: “Da muß alleszusammenpassen, die Frisur zum jeweiligen Typ, das Kostüm und selbst der Nagellack” so Uta Schorn, Pferdsprung-Europameisterschaftsdritte (Jülicher Nachrichten 1974).

Der Turnanzug als Accessoire zur erfolgreichen Selbstinszenierung

Immer mehr gehört es für die Turnerinnen zur Selbstverständlichkeit sich gerade für Turnwettkämpfe zurecht zu machen. Schließlich wird der Wirkung eines schönen Turnanzuges, der den athletischen Körper und den Charakter der Turnerin unterstreicht, ein wichtiger Stellenwert beigemessen. Ein zur Turnerin und zur ausgeführten Übung passender Turnanzug rundet die Leistung der Turnerin ab. Nicht selten kommt es bei der Bewertung der gezeigten Übung zu Punktabzügen aufgrund des unvorteilhaft gewählten Turnanzuges, des Make-Ups oder des Haarschmucks.

Zahlreiche Körperdetails müssen daher zunächst kunstvoll arrangiert werden, bevor sich die Turnerin den begutachtenden Blicken des Publikums aussetzt.

Gleichzeitig werden klare Grenzen zwischen Training und Wettkampf gezogen. Das Training als privater Raum ist relativ geschützt vor ästhetischen Zwängen. Der Wettkampf als öffentlicher Ort setzt andere Maßstäbe beim Auftritt. Ein “ausgeleierter” und “ausgewaschener” Turnanzug wird hier zur Blamage und kann sogar wertvolle Punkte kosten und dadurch über Sieg und Niederlage der Turnerin entscheiden.

Die Kleidung, die Frisur und das Make-Up der Turnerin heute ist bedeutungsvolles Accessoire ihrer Selbstinszenierung.

Von der zunehmenden ästhetischen Selbstwahrnehmung

Nicht nur im Wettkampf, sondern nunmehr auch im Training wird die Turn- und Gymnastikbekleidung ausgiebig kultiviert. Unermesslich ist das Angebot an Turnanzügen und Gymnastikanzügen. Nicht selten belohnen Eltern die Wettkampferfolge ihres Kindes mit einem neuen Turnanzug. Der Besitz eines besonderen Turnanzuges führt zu einer stärkeren Motivation der jungen Turnerin. Es herrschen regelrechte Modetrends von samtig bis glänzend, von bedruckten Dessins bis hin zu mit Strass übersäten, glitzernden Turnanzug-Kunstwerken.

Zu verdanken haben wir diese verstärkte ästhetische Körperselbstwahrnehmung der Fitnesswelle der 1970er Jahre, als Jane Fonda mit der Präsentation des sogenannten “Body” zum sportlichen und modischen Vorbild für figurbetonte und bunte Sport- und Fittnessbekleidung wurde. Damals fingen Frauen an, verstärkt Körper zu zeigen und sich die Farbzusammenstellungen ihrer Sportbekleidung selbst auszusuchen. Sie trugen farbenfrohe Bodies über enganliegenden kurzen Hosen. Diese betonten besonders den Po und konnten am Hals sehr tief ausgeschnitten sein, so dass sich das Bewusstsein von Brüsten sehr stark einprägte. Außerdem konnte der Body einen sehr hohen Beinausschnitt haben, so dass die Beine der fitnessbegeisterten Dame dadurch länger erschienen. Dieser “Body” ist zum Zentralstück der weiblichen Bekleidungsszene im Sport geworden.

Beim Turnen finden wir den Body in der abgeänderten Form des Turnanzuges wieder. Dieser wird lange nicht so tief im Hals oder so hoch beim Bein ausgeschnitten. Jedoch finden wir insbesondere bei den Trainingsanzügen zahlreiche Modelle, welche auch ohne Arm getragen werden, was sich Dank der Fitnesswelle erfolgreich durchgesetzt hat.

Von Alltagskleidung zur zum Sport motivierenden Kleidung

Die heutige Sportbekleidung hat eine bogenförmige Entwicklung genommen. Am Anfang wurde vereinfachte Alltagskleidung getragen. Und heute passiert wiederum eine Einflussnahme der Alltagskleidung auf die Sportbekleidung, wie z.B. der “Athleisure” Trend, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Die heutige Modewelt sieht die Bekleidung im Sport als eine Bereicherung, als Ausdruck einer gewissen Lässigkeit, als Koketterie oder als einen besonderen Kick an. Die vormals strikte Trennung von funktionaler Sportkleidung wird heute durch die modischen Besonderheiten der Alltagsmode derart aufgepeppt, dass manchmal nicht mehr ersichtlich ist, ob die betreffende Person nun tatsächlich Sport ausüben möchte oder zum Shopping in die Stadt fährt. Hier wird deutlich, dass die Ausstaffierung des Körpers gerade den Spaß am Sport in der heutigen Zeit bringt; dass also modische Beweggründe durchaus zum Sport motivieren können.

von Kathrin Baumgart in Zusammenarbeit mit ERVY Sports Fashion GmbH

Literatur zum Nachlesen und Stöbern:

Gertrud Pfister: 200 Jahre Turnbewegung – von der Hasenheide bis heute

Lotte Rose: Das Drama des begabten Mädchens: Lebensgeschichten junger Kunstturnerinnen.

Gabriele Splett: Sport und Mode: Eine Untersuchung über den Zusammenhang zwischen Körperlichkeit und Bekleidung unter besonderer Berücksichtigung der weiblichen Körper-Problematik

Eberhard Zinke, Klaus Arnold: Gerätturnen für Mädchen

Manuela Müller-Windisch: Aufgeschnürt und außer Atem. Die Anfänge des Frauensports um viktorianischen Zeitalter.

Dirk Winkel: Turnerisches Bewegen im Wechsel der Geschichte.